Stuttgarter Zeitung sonstige Kreis-Seiten 10.6.1998

 

Für 20 Millionen saniert

Mustersiedlung als Publikumsmagnet

KUCHEN, Kreis Göppingen. Bewegte Zeiten hat die historische Arbeitersiedlung in Kuchen hinter sich. Gebaut wurde sie Mitte des 19. Jahrhunderts als Prestigeobjekt, Anfang der siebziger Jahre sollte sie der Spitzhacke zum Opfer fallen. Heute gelten die acht Häuser am westlichen Ortsrand als einzigartiges baugeschichtliches Kleinod, für das sich auch von weit her eine Reise nach Kuchen lohnt. ¸¸Wir hoffen, daß die Siedlung ein kleiner Publikumsmagnet wird'', erklärt Bürgermeister Bernd Rößner. Ein noch druckfrischer Farbprospekt soll das Viertel und seine Geschichte über die Region hinaus bekanntmachen. Seit einem halben Jahr bietet der ehemalige ¸¸Esbianer'' Helmut Junginger Führungen an. Er lernte das Schlosserhandwerk bei der Süddeutschen Baumwollindustrie (ESBI), in deren Besitz die Siedlung bis 1983 war. Außerdem weisen seit kurzem Schilder auf die Sehenswürdigkeit hin.

Fast 20 Millionen Mark hat die Gemeinde in den vergangenen zehn Jahren in die Sanierung der ¸¸interessantesten Werksiedlung in Süddeutschland'' gesteckt, die sie 1983 nach dem Konkurs der Süddeutschen Baumwollindustrie gekauft hatte. Angetan von der Besonderheit unterstützte das Land das Projekt mit knapp neun Millionen Mark. Das Geld stammte aus zwei Töpfen. ¸¸Das ist außergewöhnlich'', stellt Kreisarchivar Walter Ziegler fest, der sich den Abrißplänen Anfang der siebziger Jahre energisch entgegengestemmt hatte. Als profunder Kenner der Geschichte verfaßte er auch den Prospekt.

Die historische Bedeutung der Siedlung, die der Schweizer Industrielle Arnold Staub zwischen 1858 und 1869 von namhaften Architekten erbauen ließ, sprang auch Ulrich Schramm von der Kommunalentwicklung sofort ins Auge, als er die Gebäude Mitte der achtziger Jahre untersuchte. Entsprechend dick war der Ordner mit den Ergebnissen. ¸¸Wir machten für jedes Haus eine Bestandsaufnahme und legten fest, wie es zu sichern ist.''

Bei der Sanierung legten die Fachleute Wert darauf, alles im Originalzustand zu belassen. Ohne Zugeständnisse ging das natürlich nicht. So eröffnete im Badhaus, das lediglich bis 1875 als Bad diente, dann aber zu einem Speisesaal umgebaut wurde, ein Kindergarten. Die Fabrikhallen wurden abgerissen. Von ihnen zeugt nur noch ein Stück Mauer. Noch rund 1,5 Millionen Mark muß die Gemeinde lockermachen, um die Sanierung abzuschließen. Ein Teil der Weberallee und der 2,8 Hektar große Park hinter der früheren Fabrikantenvilla müssen noch gerichtet werden. Die Villa selbst hat ein Privatmann saniert.

Nicht nur aus der historischen Perspektive ist die Arbeitersiedlung etwas Besonderes. Sie galt von Anfang an als mustergültig. Auf der Pariser Weltausstellung 1867 wurde sie mit einer Goldmedaille ausgezeichnet. Mit den Arbeiterwohnungen wollte Arnold Staub nicht nur Arbeiter an den Betrieb binden. Es ging ihm auch um die ¸¸geistige und sittliche Hebung des Arbeiterstandes''. Ein Dorf im Dorf entstand. Mit Schule, Kindergarten, Laden, Apotheke und Spital. Reizvoll ist die Architektur. Kein Haus gleicht dem andern. So erinnert ein Teil der Gebäude an eine Arbeitersiedlung im Elsaß oder ein englisches ¸¸Cottage''. rik