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StZ 22.08.1997



Und die »Ilias« hat doch recht

Von Michael Petersen

Hat hier, genau auf diesem Stein der hohen Befestigungsmauer Trojas, ein Krieger das Trojanische Pferd herannahen sehen? Die Angreifer aus Griechenland hatten einen sechs Kilometer langen Weg von der Ägäis hinter sich. Oder hatten sie ihre Segelschiffe durch die 4,5 Kilometer entfernten Dardanellen gesteuert? Die sind gut zu erkennen, obwohl die Ebene des Flusses Skamander heute von der Landwirtschaft genutzt wird. Im Jahr 1180 vor unserer Zeitrechnung schauten die 7.000 Bewohner der Großstadt Troja auf eine Lagune. Die Streitwagen der Achäer mußten an einem drei Meter breiten und einen Meter tiefen Graben stoppen, den die Verteidiger der Stadt in das Kalkgestein gehauen hatten. Genau wie von Homer in der ,,Ilias'' beschrieben. Den Kämpfern sollte nichts anderes übrigbleiben als abzusteigen. Dann waren sie von den 80 bis 100 Meter weit fliegenden Pfeilen besser zu treffen. ,,Seit ein paar Tagen können wir hinter den Gräben auch ein mehrere Meter hohes Bollwerk aus Holz nachweisen'', unterbricht die Stimme des Tübinger Professors Manfred Korfmann die Gedanken. Eine derartige Befestigung wurde in der Archäologie des Ostmittelmeerraumes dieser Zeit noch nicht gefunden. Auch sie ist in der ,,Ilias'' recht genau beschrieben. Der Verteidigungsring um Burg und Unterstadt mit einem Umfang von 2000 Metern war bestimmt nur schwer zu nehmen. Laut Homer jedenfalls nur mit der List des Trojanischen Pferdes.

,,Herr Korfmann, wir haben das südliche Tor im Bollwerk der Unterstadt gefunden'', ruft ein junger Mann. Der Grabungsleiter nickt befriedigt. Er hat diesen Fund erwartet, wird ihn bei der achtstündigen Führung später selbst zum erstenmal sehen. Seit zehn Jahren stoßen die bis zu hundert Wissenschaftler und die ebenso vielen türkischen Arbeiter des Grabungsteams auf bisher unentdeckte Mauern, Scherben, Münzen, Brunnen oder auch Statuen. So hebt Korfmann schwer an einem Kopf des Kaisers Augustus (31 v. Chr. bis 14 n. Chr.). Der wurde in diesem Sommer unbeschädigt ausgegraben. Troja lebt und verrät seine Geheimnisse - nach mehr als tausendjährigem Dornröschenschlaf.

Bereits vor 5.000 Jahren, in der Bronzezeit, bauten auf diesem Hügel Menschen Häuser aus Stein. Hier gruben die ersten Archäologen. Und Troja gab der Archäologie die Chronologie. Auf sieben Siedlungsschichten mit 41 Bauphasen türmten von 500 v. Chr. bis 450 n. Chr. die Baumeister der griechischen und römischen Antike ihre Paläste. Heute lassen sich Funde im gesamten Mittelmeerraum mit Troja abgleichen. So läßt sich ihre Entstehungszeit bestimmen.
* ,,Ist die Regierung Kohl noch im Amt?'' Die Frage eines jungen Wissenschaftlers ist gar nicht so unernst gemeint, wie sie klingt. ,,Wir bekommen hier von der aktuellen Weltlage gar nichts mit.'' Nur Manfred Korfmann hat einen Weltempfänger. Ob er ihn nutzt, weiß keiner. Aber vielleicht verliert ein Regierungswechsel in Bonn an Bedeutung für jemanden, der täglich Zeugnisse von vielen tausend Jahren Menschheitsgeschichte in Händen hält.

Das ganze Team wohnt in einfachen Hütten im Mandeldorf, zehn Fußminuten vom Grabungshaus entfernt. Dort steht von 5.30 Uhr an das Frühstück auf dem Tisch: Joghurt, Tomaten, Rührei, starker Tee. Spätestens um halb sieben sind alle bei der Arbeit. Jeder will die kühlen Morgenstunden nutzen. Und der Tag ist lang. Zwölf Stunden Arbeit, Sechstagewoche, geringe Bezahlung. Selbst Anerkennung wird zurückhaltend gespendet. ,,Ich lobe nicht, weil wir sowieso zu guter Arbeit verpflichtet sind'', sagt Korfmann. Bei diesen Worten atmet ein Mitarbeiter ganz tief durch. Ein Schulterklopfen hier oder dort wäre sicher willkommen.
* Homer schrieb die ,,Ilias'' um 730 v. Chr. und die ,,Odyssee'' um 700. Werke der Weltliteratur, die in ihrer Bedeutung höchstens von der Bibel oder dem Koran übertroffen werden. Homer verherrlichte den Krieg nicht, im Gegenteil. Offensichtlich von wenig göttlichen Eigenschaften getrieben wie von Liebe und Leidenschaft, Neid und Haß, Arroganz und Wohlwollen, hetzten die Götter die Bewohner Trojas und die aus Griechenland kommenden Angreifer aufeinander. Reine Dichtung oder doch manche Wahrheit? Den meisten Klassischen Philologen des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts schien der Inhalt der ,,Ilias'' auf bloßer Fiktion zu beruhen. Sie begannen, jeglichen Wahrheitsgehalt zu bestreiten. ,,Andererseits suchten Reisende seit dem 17. und 18. Jahrhundert in diesem Gebiet der Erde, was ihnen von Jugend an aus Homers Epen lieb und vertraut war'', sagt der Tübinger Professor Dietrich Mannsperger, der seit vielen Jahren eng mit Korfmann zusammenarbeitet.

Der Engländer Frank Calvert, nicht Heinrich Schliemann, setzte 1863 auf dem nur 31 Meter hohen Hügel Hisarlik als erster den Spaten an. Später zeigte Calvert den Ort dem weit finanzkräftigeren Schliemann, der sich künftig gerne als Entdecker Trojas feiern ließ. Schliemann hielt bei seinen Grabungen zwischen 1870 und 1890 die ,,Ilias'' als Vorlage in den Händen. Spektakulär waren seine Funde, aber er stieß vorwiegend auf Reste früherer Siedlungen aus der Bronzezeit. Hinsichtlich der ,,Ilias'' zog er falsche Schlüsse. Manche Kritiker triumphierten.

Manfred Korfmanns Bilanz nach zehn Jahren Grabungen in Troja lautet anders: ,,Die Übereinstimmungen mit der ,Ilias' sind verblüffend, keines der angeblichen Gegenargumente der Archäologie hat Bestand.'' Beispiele? Troja war nach der Zerstörung nicht 450 Jahre lang - bis zu Homer -, sondern nur 250 unbesiedelt. Das läßt mündliche Überlieferungen glaubhaft erscheinen. Der Fund eines Siegels mit der altanatolischen Schrift Luwisch setzte die Fachwelt in höchstes Erstaunen. Schriftliche Überlieferungen sind somit wahrscheinlich geworden. Und dazu ist das Siegel ein weiteres Indiz für Korfmanns These, daß Troja viel stärker im anatolischen Einflußgebiet verwurzelt ist als - so hatte man bisher angenommen - im griechischen. Das Bronzesiegel, eine Bronzefigur einer orientalisch-anatolischen Gottheit, die Kombination aus Burg und Unterstadt belegen für Korfmann eine enge Bindung an Kleinasien. ,,Herr Korfmann, haben Sie Troja eine neue Heimat gegeben?'' Der stimmt der Frage mit kräftigem Kopfnicken zu.

Vor den Mauern der Unterstadt stieß das Team in einer Brandschicht auf einhundertfünfzig schwarze, gleichartige und somit ausgesuchte Kiesel, die nur Schleudersteine sein konnten. Für Korfmann ein Indiz für einen verlorenen Krieg. ,,Die Wut der Angreifer reicht aus, um eine Stadt anzuzünden, aber sie machen sich nicht die Mühe, Steine wegzuräumen. In Friedenszeiten würden die Steine stören, man würde sie nicht herumliegen lassen.'' Interessant: Moderne Verfahren deuten darauf hin, daß diese Steine um das Jahr 1180 v. Chr. geformt worden sind. Philologen datieren den Trojanischen Krieg auf diesen Zeitabschnitt.

Ob es sich dabei um den Trojanischen Krieg handelt, lassen die Altertumsforscher freilich offen. ,,Denn Helena, Hektor und König Priamos werden wir nie finden'', sagt Korfmann. Das grämt ihn auch nicht. ,,Das beste Kunstwerk der Literatur braucht uns nicht, es steht für sich'', sagt der Archäologe. Mit seiner Hilfe steht es dennoch auf immer festerem Boden.
* Das angerostete Kanonenrohr zielt gar nicht so weit am Heldendenkmal auf der europäischen Seite der Meerenge vorbei. Dort wird den Opfern der Schlacht der Dardanellen gedacht. 200000, vielleicht sogar 500.000 Menschen starben hier im Jahr 1915 beim Kampf der letztlich siegreichen Türken gegen eine internationale Allianz. Bei den Dardanellen schrumpft die Entfernung zwischen Europa und Asien bis auf 1900 Meter. ,,Man kann den Kampf um Troja als den Kampf des Westens gegen den Osten, Europas gegen Asien interpretieren'', sagt Professor Mannsperger an der Meerenge. Noch bis vor wenigen Jahren wurde die Fahrt der Frachter, Tanker oder auch Marineschiffe von sensiblen Nato-Radaranlagen überwacht, die an dieser Schlüsselstelle sowjetische Kriegsschiffe ausmachen sollten. Erst nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums wurden die Antennen abgebaut.

Bis zur Erfindung des Dampfschiffs setzte die Fahrt durch die Dardanellen großes seemännisches Können voraus und noch mehr Geduld. Denn gegen häufig wehende Nordostwinde waren Segelschiffe chancenlos auf ihrem Weg von der Ägäis in Richtung Istanbul und Schwarzes Meer. Meteorologen haben gemessen, daß dieser Wind im Durchschnitt mit 27 Kilometern in der Stunde aus Norden weht. Außerdem bremst eine starke Strömung. Also blieb nur Warten auf Südwind. Dieses Warten hat Troja reich gemacht.
* ,,Links hinter dem 20 Meter hohen Grabhügel des Festus sehen Sie den Qualm eines Zementwerkes'', sagt Korfmann. Festus war der beste Freund des römischen Kaisers Caracalla. Dessen Handlungen waren mitunter vom Wahnsinn gesteuert. So hat er Festus im Jahr 214 vergiftet, weil er dem Freund Begräbnisfeierlichkeiten wie jene widmen wollte, die Achilles zu Ehren des von Hektor getöteten Patroklos inszenieren ließ. Die sind ebenfalls nachzulesen bei Homer.

Auch das ständig höher wachsende Zementwerk hat den Archäologen Korfmann beschäftigt. Erst seit ziemlich genau einem Jahr kann er einigermaßen sicher sein, daß durch Industrie und Tourismus nicht in unmittelbarer Nähe Trojas wertvolle archäologische Funde zerstört werden. Der Tübinger Professor hat nach 25 Jahren beharrlichen Vorsprechens in Ankara erreicht, daß die Landschaft um Troja von der türkischen Regierung zum ,,Historischen Nationalpark Troja'' erklärt wurde. Straßenbau- oder Häuserbau, selbst das Pflanzen von Bäumen bedarf jetzt der Genehmigung. Um so wütender ist Korfmann, als er auf der Fahrt mit dem Geländewagen Rohbauten illegal errichteter Ferienhäuser sieht, gleich neben dem Grabhügel des Achilles. Später lobt Gouverneur Ekrem Özsoy vor Journalisten die Vorzüge des Nationalparks. ,,Die Türkei hat die weltweite Bedeutung von Troja erkannt'', sagt er. Taktisch klug spricht ihn Korfmann unmittelbar nach diesen Worten auf die Ferienhäuser an. Der Gouverneur kann gar nicht anders, als zu versprechen, sie umgehend abreißen zu lassen.

Auch ein Altertumsforscher hat Visionen. Für das riesige Einzugsgebiet der 15-Millionen-Metropole Istanbul hofft Korfmann auf den Anbau von Biogemüse im Nationalpark. Dort, wo heute die chemische Keule eingesetzt wird. An den früheren Plätzen mittelalterlicher Windmühlen wachsen vor seinen Augen bereits moderne Windkraftanlagen.
* Dieser Manfred Korfmann gräbt seit 1972 in Anatolien. Der heute 55jährige kennt das Land, spricht die Sprache der Leute. Viele Jahre lang gastierte das Team Sommer für Sommer in dem kleinen Dorf Yeniköy. Als der Prähistoriker dort im Teehaus vorbeischaut, wird er wie ein Familienmitglied umlagert. ,,Osman Bey war für uns früher ein älterer Bruder, ist heute ein Onkel und wird bald für uns ein Opa sein'', führt ein Lehrer in seiner Begrüßungsansprache aus. ,,Osman Bey - Osmanischer Herr'' - eine große Ehre für einen Ausländer. Korfmann ganz persönlich - nicht irgendeine Institution oder Universität - erhielt 1988 nach 50 Jahren Grabungspause in Troja die Grabungsrechte. Als deutscher Professor, was zusätzlich verwundert. Hat doch Pionier Schliemann zwar manches gefunden, aber auch viel Vertrauen zerstört. Dazu beigetragen hat der Schmuggel des von ihm als ,,Schatz des Priamos'' bezeichneten Goldfundes nach Berlin. Die Stücke verschwanden nach 1945, erst 1993 gab Moskau den Besitz zu. Korfmann hofft, daß wenigstens als Leihgabe Teile des Schatzes, der aus der Zeit um 2450 v. Chr. stammt, in einem großen Trojamuseum ausgestellt werden, das in den nächsten beiden Jahren erstellt werden soll. Die Nachricht von der Freigabe dafür vorgesehener drei Millionen Mark teilte Korfmann dem Provinzgouverneur Özsoy mit - nicht umgekehrt. Der spricht gleich mehrfach davon, daß die ,,Regierung und Herr Korfmann'' Projekte in der Region um Troja genehmigen müssen.

Als Manfred Korfmann die Grabungsrechte erhielt, wäre der Start der Arbeiten fast am Geld gescheitert. Doch auch hier öffneten sich Türen zu einflußreichen Menschen. Diesmal half der damalige Daimler-Benz-Vorstandschef Edzard Reuter. Seit Beginn der Grabungen 1998 steuert der Konzern Jahr für Jahr 250.000 Mark und damit rund zwanzig Prozent zum Grabungsetat bei.

Mit diesem sogenannten Kultursponsoring finanziert Korfmann auch Abschnitte, die von der Deutschen Forschungsgesellschaft niemals finanziert werden würden. Dazu gehört die Aufstellung von Schautafeln für die 2.000 Touristen, die Tag für Tag durch Trojas Mauern streifen. Die nächsten sollen auch auf japanisch verfaßt sein. Und noch wichtiger: die Konservierung und Restaurierung von vielen Mauern Trojas. ,,Ohne diesen großen Aufwand zerfällt die Ruine zur Ruine'', sagt Korfmann.

Troja hat ziemlich gute Chancen, im nächsten Jahr zum Weltkulturerbe ernannt zu werden. Korfmann freut der Zuwachs an Image, ihm persönlich bedeutet die Auszeichnung wenig: ,,Für mich ist Troja sowieso Weltkulturerbe, da braucht mir keiner was zu erzählen.''


© 1997 Stuttgarter Zeitung, Germany

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