Kreis Göppingen 09.09.1997



Bauforscher macht überraschende Entdeckung

Geislingen birgt ungeahnte Fachwerk-Schätze

Vermutlich schlummern 30 bis 40 mittelalterliche Gebäude unter Putz - Stadtverwaltung möchte Dokumentation erarbeiten lassen

GEISLINGEN, Kreis Göppingen. Die Stadt Geislingen birgt manches Kleinod mittelalterlicher Baukunst. Doch noch sind offenbar nicht alle Schätze bekannt, geschweige denn gehoben. Der Ettenheimer Bauforscher Burghard Lohrum vermutet, daß im Bereich der Hauptstraße und ihrer Seitengassen mindestens weitere 30 bis 40 mittelalterliche Fachwerkhäuser unter Putz schlummern, als bisher bekannt waren. Außerdem ist er ziemlich sicher, daß manches Baudenkmal älter ist als angenommen. Obwohl im Stadtsäckel gähnende Leere herrscht, will Oberbürgermeister Martin Bauch von diesem Kapitel der Stadtgeschichte eine Dokumentation anfertigen lassen. Diese Aufbereitung ist seiner Überzeugung nach wichtig für den Umgang mit diesen historischen Gebäuden. Außerdem könne er sich vorstellen, daß die Entdeckung alter Bausubstanz auch vermarktet werden kann. Im Herbst hat der Gemeinderat das Wort.

,,Die Perlen sollte man kennen, bevor man saniert'', plädiert auch der Bauforscher Lohrum für eine genaue Untersuchung. In der Vergangenheit hätten viele Städte den Fehler gemacht, mit viel Aufwand die falschen Gebäude zu sanieren. ,,Für die wirklich wertvolle Bausubstanz war dann kein Geld mehr da.'' In Geislingen empfehle sich eine dendrochronologische Analyse vor allem aufgrund der vielen Gebäude. ,,Nur so läßt sich feststellen, wo die wirklich interessanten Häuser sind.'' Die Dendrochronologie ermöglicht die Altersbestimmung von Häusern anhand des Bauholzes.

Seine Entdeckungen machte Lohrum eher per Zufall. Um einen Vortrag bei einer Fachtagung der Holzrestauratoren in Geislingen vorzubereiten, hatte er vor einem Jahr die Fünftälerstadt unter die Lupe genommen - und gestaunt. Die Dachneigung und das Raummaß vieler unscheinbar verputzter Häuser wiesen eindeutig auf das Mittelalter zurück. Ein sicheres Indiz für mittelalterliche Baukunst seien die vorspringenden Etagen. ,,Je größer die Vorsprünge sind, desto älter ist das Gebäude.''

Er geht daher davon aus, daß die ehemalige Gaststätte ,,Pflug'' aus einem früheren Baujahr stammt als bisher angenommen. ,,Es könnte zu den ältesten Häusern Geislingens zählen.'' Bemerkenswert sei auch der Alte Zoll in der Fußgängerzone. Er sei von der Substanz her so hochwertig wie der Alte Bau, nur nicht so stattlich. Der hochaufragende Alte Bau ist bekanntlich ohne Beispiel in ganz Baden-Württemberg.

Neue Erkenntnisse hat Lohrum auch über die Stadtkirche gewonnen. Der Dachstuhl müßte nach im Jahr 1424/25 gezimmert worden sein. Dies sei erstaunlich, da mit dem Bau der Kirche erst 1424 begonnen worden sei. Die Art der Konstruktion repräsentiere einen Entwicklungsschritt auf Landesebene. Weitere Überraschungen schließt Lohrum nicht aus.

Ob die Untersuchungen in eine neue Sanierungssatzung münden - bekanntlich läuft zur Zeit noch ein Programm in der oberen Stadt - ist zur Zeit noch offen. ,,Das hängt auch vom Land ab'', sagt der Pressesprecher der Stadt, Herbert Fitterling. Lohrum würde sich dagegen unbedingt wünschen, daß eine Untersuchung auch Konsequenzen hat. In Zeiten knapper Kassen gebe es noch immer die Möglichkeit, Liebhaber zu finden, die in solche Objekte investierten. Außerdem zeigten die Städte Konstanz und Rottweil, daß auch ohne finanzielle Klimmzüge so manches getan werden könne. rik

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