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Artikel aus der
Stuttgarter Zeitung
vom 08.11.2002

 


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Glücksgefühle wie nach der Entdeckung Amerikas


 
Oberkonservator Helmut Reichwald geht in den Ruhestand - Der staatlichen Restaurierungswerkstatt seinen Stempel aufgedrückt
 
Mit der Methode, wie Fresken und Madonnen gerettet werden, hat die Restaurierungsabteilung im Landesdenkmalamt Maßstäbe gesetzt. Sie sind mittlerweile für ganz Deutschland gültig. Ihr Chef Helmut Reichwald geht jetzt in Pension.

Von Martin Geier

An allem ist die Heuspinne schuld. Über Jahrzehnte hat sie in Owen im Kreis Esslingen ein nahezu undurchdringliches Netz gesponnen, hinter dem sich nach sechs Jahrhunderten ein längst vergessenes Gemälde fand. Als die Heuspinne ihr Geheimnis freigegeben hatte, war die Sensation perfekt. Oberkonservator Helmut Reichwald konnte nachweisen, dass es sich bei den Fresken nicht um irgendwelche Malereien aus dem späten Mittelalter handelte, sondern um den so genannten Bernhard-Zyklus, wie er außer in Frankreich und auf Mallorca sonst nirgends mehr auf der Welt zu finden ist. Reichwald wird bei der Entschlüsselung des Bilderrätsels vermutlich von Glücksgefühlen heimgesucht worden sein, als habe er Amerika entdeckt. Amtlicherseits war dies die letzte "Großtat" Reichwalds, der in den vergangenen 25 Jahren dem Restaurierungsgewerbe im Südwesten seine Handschrift aufgedrückt hat.

Der Owener Fund ist sozusagen die Dernière Reichwalds, gleichzeitig steht die Bernhardskapelle symbolisch für die Erfolgsgeschichte der amtlichen baden-württembergischen Restaurierungswerkstatt. In der wiedererstandenen Bernhardskapelle stellt das Landesdenkmalamt seine Kompetenz unter Beweis, außerdem die Partnerschaft mit den freien Restauratoren und dazu eine verständnisvolle Stadtverwaltung und eine einfühlsame Architektin.

Die Geschichte der Bernhardskapelle ist schnell erzählt: Im 14. Jahrhundert entstanden, wurde sie nach der Reformation Zehntscheuer, an die später ein Bauernhaus angebaut wurde. Seit den 1930er Jahren steht das Anwesen unter Denkmalschutz, aber erst in den jüngeren Vergangenheit hat man den Schatz gehoben. Immer, wenn sich einmal ein Denkmalschützer auf den Hof verirrte, war die Scheuer voller Heu. Das sollte sich erst ändern, als die Landwirtschaft aufgegeben wurde und die Stadt den Hof kaufte. "Die Wände waren von einem dichtem Spinnengewebe überzogen, nur etwas Farbiges schimmerte durch", erinnert sich Helmut Reichwald an den ersten Anblick. Mit Skalpellen wurde das Spinnennetz entfernt. Wissenschaftler machten dann - wie sich später herausstellen sollte - völlig untaugliche Deutungen der Darstellungen. Das ließ Reichwald keine Ruhe, bis er nach reichlichem Studium voriges Jahr in der Scheune von Owen den kompletten Bernhards-Zyklus nachweisen konnte. Unaufdringlich umgebaut unter Beibehaltung aller Geschichtsspuren, ist aus dem ehemaligen Bauernhof ein Kulturhaus geworden, dem die Stadt seinen ursprünglichen Namen zurückgegeben hat.

So ist nur konsequent, dass Reichwald an diesem Ort seinen Abschied von seinen Mitarbeitern und Partnern nimmt. Der 65-Jährige kam vor 25 Jahren nach Stuttgart, 42 Jahre ist er nun im Beruf. Der damalige Amtschef August Gebessler hatte ihn von den Restaurierungswerkstätten der bayerischen Denkmalpflege losgeeist. Damals herrschte auf dem Markt der freien Restauratoren mehr Chaos als Können. Weil sich jeder ohne Prüfung Restaurator nennen durfte, fielen diesem Berufsstand oftmals wertvollste Objekte in die Hand, die teilweise unwiederbringlich verhunzt wurden. In Stuttgart wurde 1977 die neue Restauratorenzeit eingeläutet. Viel früher als in den Gemäldegalerien und Museen hat man hier den Tourismus von Kulturobjekten unterbunden. In der Erkenntnis, dass Transport und Temperaturveränderungen einem fragilen Kunstwerk mehr schaden, ging Reichwald dazu über, seine Patienten an Ort und Stelle zu behandeln. Er ließ Altäre nur von denen restaurieren, die sich ausgewiesenermaßen damit auskannten, und ließ Bilder nur von denen reparieren, die diese Fähigkeit bereits erfolgreich bewiesen haben. Wichtigste Neuerung: jeder Arbeitsschritt musste dokumentiert und für die Nachwelt nachvollziebar gemacht werden.

Noch wichtiger schien Reichwald, dass man mit dem Patienten "nicht alles macht, was man mit ihm machen kann" (August Gebessler), dass Konservieren vor Restaurieren geht, weil jede Restaurierung wieder eine Veränderung am Kunstobjekt bedeutet. So lehnt Reichwald auch die Freilegung von Fresken unter uraltem Putz ab, wenn es nicht unbedingt nötig ist.

Dieser neue Weg war in der Praxis nicht einfach umzusetzen, denn Reichwald verlangte von den freischaffenden Restauratoren viel. Heute sehen sich Restauratoren und Denkmalamt als Partner. Gleichzeitig hat Reichwald in seinem Amt etwa 30 Restauratoren ausgebildet. In Reichwalds Tätigkeit fallen die Restaurierung der ottonischen Fresken auf der Reichenau, der Schongauer-Fresken im Breisacher Münster, des Hochaltars in Blaubeuren, des Freiburger und Überlinger Münsters und der Kirche St. Michael in Schwäbisch Hall. Darüber sind wissenschaftliche Publikationen entstanden, die zum internationalen Renommee des Oberkonservators beitrugen. Auch wenn Reichwald jetzt seinen Schreibtisch räumt, berät er nach wie vor im Auftrag der Bundesregierung russische Kollegen bei der Wiederherstellung der Mariainschlafenskirche in Nowgorod, die von den Deutschen zerstört worden war. An der Kunstakademie Stuttgart bereitet er überdies den neuen Studiengang Wandmalerei und Steinpolychromie für Restauratoren vor.
 
08.11.2002 - aktualisiert: 09.11.2002, 06:03 Uhr

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