Artikel aus der
Stuttgarter Zeitung
vom 14.9.2001
Wissenschaft



Deutsche Archäologen orientieren sich an der Praxis

Europäische Vereinigung erörtert in Esslingen aktuelle Probleme des Fachs - Große Unterschiede in den Forschungsansätzen

In der kommenden Woche wird Esslingen zum Zentrum der Archäologen: Zum ersten Mal trifft sich die Europäische Archäologenvereinigung in Deutschland. Für wissenschaftlichen Diskussionsstoff ist reichlich gesorgt - nicht nur bei der Bewertung archäologischer Erkenntnisse.

Von Dieter Kapff

Europa wächst zwar immer mehr zusammen, aber Hindernisse bei diesem Prozess gibt es reichlich. Was für die Politik gilt, trifft auch auf die Archäologen zu. Denn noch gibt es keine europäische Archäologie, sondern nur nationale und regionale Archäologien. Jedes Land hat unterschiedliche Strukturen und Rechtsverhältnisse oder eigene Interessenlagen, die, wie in Skandinavien und Großbritannien, von dem Verständnis der Archäolgie als Bestandteil der Landesgeschichte geprägt sind. Und jedes Land setzt eigene Schwerpunkte. Dies gilt einerseits für Inhalte - so ist es kaum verwunderlich, dass in Skandinavien die Römerforschung nicht gerade Vorrang hat. Andererseits gilt dies auch für die Methodik und den Umgang mit Archäologie.

Freilich gibt es Bestrebungen zur Vereinheitlichung, zur Festsetzung vergleichbarer Standards bei Forschung und Ausbildung. Die Europäische Archäologenvereinigung (EAA) als privater Verein kann hier aber nicht mehr als beraten und empfehlen. Die Politiker müssen für die adäquate finanzielle und personelle Ausstattung, für Ausbildungsrichtlinien und Rechtsgrundlagen sorgen. Immerhin können Treffen wie jetzt in Esslingen dazu beitragen, dass Vorurteile abgebaut werden - Vorurteile, die beispielsweise dadurch entstanden sind, dass britische Archäologen Forschungsergebnisse nur zur Kenntnis nehmen, wenn sie in Englisch publiziert sind.

So ist das Treffen in Esslingen mehr als nur der Austausch wissenschaftlicher Ergebnisse. Er ist auch ein Austausch über kulturelle Grenzen hinweg. Schließlich lebt auch die Archäologie nicht im politikfreien Raum. So beschäftigen sich Skandinavier und Deutsche gerne mit dem Missbrauch durch den Staat. Vor allem Skandinavier hinterfragen dabei häufig die soziologischen, politischen, weltanschaulichen oder geschlechtspezifischen Gegebenheiten der Forschung und der Forscher - und ihre Auswirkungen auf die Forschungsergebnisse.

Vereintes Europa und Osterweiterung sind nicht spurlos an den Archäologen vorbeigegeangen. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs drängten osteuropäische Archäologen nach Westen. So ist die Archäologie der Steppe zur Bronzezeit nun ein Thema - auch in Esslingen. Insgesamt tragen die Osteuropäer dazu bei, dass sich auch innerhalb der EAA die Schwerpunkte verschieben. Bisher dominierten die britisch-skandinavischen Akzente, Deutsche und Franzosen hatten sich sehr zurückgehalten. In Osteuropa ist die Archäologie jedoch immer noch, trotz des zwangsweisen kommunistischen Zwischenspiels, stärker an der deutschen Wissenschaft orientiert. Auch hat Deutsch als Wissenschaftssprache dort noch einen guten Ruf.

Im Gegensatz zu den britischen Kollegen - namentlich von den Universitäten - sind die deutschsprachigen Archäologen stärker an den Fakten, an der Praxis orientiert. Briten und auch Skandinavier bevorzugen mehr Theorie und Methodik als Arbeitsgebiete. In diesen beiden Ländern birgt der Boden allerdings auch von Natur aus weniger Funde als in Mitteleuropa, was möglicherweise weniger Anreiz zur Praxisnähe bietet. Der britische Archäologieprofessor John Collis weist zudem auf einen anderen Grund hin, wenn er scherzhaft übertreibend feststellt, in Deutschland dürfe nur ausgraben, wer den Magister- oder Doktortitel habe, in England aber fast jeder, vorausgesetzt er hat die Genehmigung des Grundstückseigners. In der Tat werden in Großbritannien die meisten Ausgrabungen von privaten archäologischen Vereinen getragen. Ein Professor mag sich da gerne vom handwerklichen Teil seines Fachs weg und hin zum Intellektuellen getragen fühlen.

Die angebliche Theoriefeindlichkeit der mitteleuropäischen Archäologen bewahrt sie allerdings vor der Gefahr, in sich stimmige, aber völlig abgehobene, nur noch geistreiche Gedankengebäude zu errichten, die bei der Überprüfung an der Realität wie Seifenblasen platzen. So haben sich im Laufe des letzten Jahrzehnts die "new archaeology'', die "processual'' und "postprocessual archaeology'' und die "postmodern archaeology'' überlebt, im Osten natürlich die kommunistische. Allzu abstruse Beiträge dieser Art sind für die Esslinger Tagung abgelehnt worden, was den Organisatoren einige Absagen eintrug.

In guter Tradition beschäftigen sich die Archäologen in Esslingen vorwiegend mit der Vergangenheit. So sind mitteleuropäische Archäologen bei Untersuchunen über die Veränderungen der Umwelt und ihre Beziehungen zum Siedlungswesen stets führend gewesen. Die auch unter modernen Umweltaspekten interessante Frage der Landschaftsveränderung unter menschlichem Einfluss wird nun auch in anderen Archäologien beachtet.

Archäologen interessiert auch der Übergang von der Jungsteinzeit zur Bronzezeit, als die fast einheitliche bandkeramische Kultur in einzelne Kulturgruppen aufgesplittert war, von denen einige - zu ihnen gehörte Ötzi - schon das Kupfer kannten. Sie fragen sich, wie und warum dann in der Bronzezeit deutliche soziale Unterschiede erkennbar werden, und die Herren in Burgen ihre Gefolgschaft zusammenhalten und den Besitz schützen. Welche Rolle spielten bei den Wechseln Klimakatastrophen und Rohstoffmangel, Erfindungen und Innovationen, Handel, Krieg und Zuwanderung Fremder?

Was Letzteres anbetrifft, so bietet die DNA-Analyse Antworten. Anwenden lässt sie sich bei Jahrhunderte oder gar Jahrtausende alten Knochen. Das Verfahren wird immer öfter verwendet, ist allerdings noch sehr teuer und verlangt schon bei der Ausgrabung peinlichste Sorgfalt. Die DNA-Analyse lässt zum Beispiel erkennen, ob zwei nebeneinander bestattete Menschen miteinander verwandt waren oder ob einer - trotz ansonsten gleichartiger Bestattungsumstände - einem ganz anderen Menschenschlag angehörte.

Doch die Archäologen werden sich in Esslingen nicht nur mit Vergangenem, sondern auch mit der Zukunft beschäftigen. Mit Computer und Laptop werden Funde und Befunde dokumentiert, Grabungspläne gezeichnet, Verbeitungskarten erstellt. Die Computerisierung der Archive, Text wie Bild, und das Verlinken von Luftbildern mit dem Geografischen Informationssystem (GIS) macht riesige Datenmengen an beliebigen Standorten verfügbar.

Das ist nicht nur für die Wissenschaft von Vorteil, sondern ermöglicht auch einem breiten Publikum und neuen, besonders jungen Benutzerkreisen leichteren Zugang. Ob dies allerdings in jedem Fall gewünscht ist - so erhalten auch Raubgräber diese Informationen - und ob die verschiedenen Computersysteme miteinander kompatibel sind, darüber gehen die Meinungen der Archäologen in Europa auseinander.

Gedacht ist auch an virtual reality, das dreidimensionale Rekonstruieren von Gebäuden und Landschaften, wie in der Troia-Ausstellung zu sehen. Angemahnt werden gemeinsame Standards und eine Qualitätskontrolle der ins Internet gestellten oder auf CD-Rom verbreiteten Daten. Und schließlich bedarf es viel Arbeit und viel Personals, die Dateien ständig zu aktualisieren und vorhandene Bestände erst einmal einzulesen. Daran aber hapert es bei den Archäologen allüberall in Europa.

Atrikelübersicht


© 1997-2001 Stuttgarter Zeitung online - Stuttgart Internet Regional GmbH