Stuttgarter Zeitung Kultur 12.01.1999



Edle Einfalt, stille Größe

Klarheit der Linien und Flächen: ein Wohnhaus in Stuttgart, entworfen von Schlude und Ströhle

Kann ein Haus einfacher sein? Vier Wände, ein Dach, gleichmäßiges Fensterraster, dazu noch nüchtern geschlossene Stirnseiten - man könnte höchstens das Dach weglassen.

Aber was die Stuttgarter Architekten Schlude und Ströhle mit dem Wohnhaus Schlude in der Kleinen Falterstraße in Degerloch vorführen, zeigt gerade das ästhetische Potential des eigentlich banalen, herkömmlichen Siedlungshauses mit 45-Grad-Dachneigung. Wo keine unterschiedlichen Baumassen aufgegliedert, keine Höhen gestaffelt und keine Anbauten eingebunden werden, wo auch keine Wände zurückspringen oder Gebäudeachsen einschwenken, da zählt die Proportion der reinen Fläche, die pure Wirkung der Materialoberflächen und die klare Fassung der elementaren raumdefinierenden Ecken und Kanten. Denn je kleiner der Gestaltungsspielraum ist, desto präziser und sorgfältiger müssen die wenigen Bestandteile des Baus aufeinander abgestimmt sein.

Schlude und Ströhle erreichten mit konsequenter Strenge und formaler Logik ein vorbildhaftes Beispiel für eine Bauaufgabe des Alltäglichen, die man sonst oft mit unbedachter Gestaltlosigkeit vor die Nase gesetzt bekommt. Alle Bauteile sind auf das Zusammenspiel von zwei Farbwirkungen abgestimmt: den Wänden aus unbehandeltem Douglasienholz und den einheitlichen Grautönen von Betonsockel, Wellblechdach und Fensterbrüstungen. Aus der funktionalen Notwendigkeit wurde eine gestalterische Tugend gemacht, indem Dachrinne, Abflußrohre und die Führungsschienen der Schiebeläden als flächengliedernde und rahmende Elemente hervorgehoben sind - geradezu als Schmuck der Fassade. Somit verschränken sich die zwei horizontalen Geschoßfelder mit den drei durchgehend vertikalen Fensterstreifen zu einer rhythmisch ausgewogenen Flächenkomposition.

Auf der Gartenseite ist über die Fassade ein Balkon- und Rankgerüst aus ebenso metallgrauen industriellen T-Trägern, Stahlrohren und Gitterrosten vorgesetzt. Durch die Schiebeläden, deren Lamellen eine Nuance dunkler erscheinen, erhalten die Fassaden ihre reliefhafte Plastizität und das je nach Stellung wechselnde asymmetrische Schachbrettmuster: ein nahezu ornamentaler Nebeneffekt der simplen Funktionalität. Eine überaus vorteilhafte Wirkung erzielt die klare, undurchbrochene Dachfläche ohne den üblichen klobigen Dachausbau, ohne aufgepfropfte Schrägfenster oder Antennen- und Schüsselanhäufung. Der kleine metallische Schornstein setzt hingegen genau den richtigen seitlichen Akzent. Weiterhin steigert die Streifenwirkung der Dachwellen die Ausrichtung der Schräge und bindet sie in die alles überziehende Schraffurwirkung der Fassaden ein. Man möchte sogar noch den welligen Wurf der Vorhänge zum Gesamtkonzept hinzurechnen. Und wer hätte so ein bürgerliches Accessoire den heutigen rationalisierenden Architekten zugetraut?

Dieses Haus trifft die richtige Mitte zwischen zeitgenössischer Eleganz und Einfügung in den nachbarlichen Baubestand zur Ergänzung des städtebaulichen Rhythmus des Straßenbilds. Es versucht nur durch die Holzbauweise, sich von seiner Umgebung abzusetzen. Also doch das leidige Bedürfnis nach Distinktion! Und das stellt die Frage nach der Verallgemeinerbarkeit: Dieser Materialtrend, der von den Architekten aus der Schweiz und aus dem österreichischen Vorarlberg ausging (eben von Regionen mit ausgeprägter Holztradition), feiert auch hierzulande immer neue Erfolge. Allein im letzten Jahr stellte die Stuttgarter Zeitung Holzbauten der Baugattungen Kindergarten, Schulbau, Uni-Wohnheim, Wohnsiedlung und Seniorenresidenz heraus. Damit könnte es jetzt eigentlich genug sein. Im Einzelfall sieht es ja unbestritten gut aus, aber es können doch jetzt unmöglich alle stilbewußten Bauherren Holzhäuser bauen. So warten wir noch auf den stinknormalen Bau, der nicht um seiner selbst und dem Architekturtrend willen anders sein muß, sondern diese ebenso einfache wie feine Stilistik der wohlgesetzten Linien und Flächen mit ortsüblichen Putzwänden und Ziegeldach realisiert. Am Material allein sollte diese formale Konsequenz nicht scheitern.

Das Degerlocher Wohnhaus hat jedoch noch eine weitere technische und ökologische Berechtigung innerhalb der genannten Beispiele: Im Unterschied zu den oft nur holzverkleideten Betonbauten ist es eine vollständige Holzkonstruktion. Seine Spannweite von sechs Metern über den einen durchgehend offenen Raum des Erdgeschosses realisiert es mit Trägern aus Brettschichtholz, weil dieses eine höhere Festigkeit aufweist als Vollholz. Die vorgefertigten Teile wurden in Tafelbauweise vor Ort in nur vier Tagen montiert. Eine Zonierung zwischen Küchen- und Wohnbereich erfolgt durch den selbsttragenden und ohne Befestigung mitten hineingestellten Treppenblock aus Stahlelementen. Dessen filigrane Gitterstruktur ergänzt im Innern folgerichtig die Materialdialektik des Außenbaus.

Von Marc Hirschfell

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