Stuttgarter Zeitung sonstige Kreis-Seiten 5.1.1999



Archäologen entdecken Gestüt für die römische Kavallerie

Heeresproviantamt in Bietigheim hat auch für die Remonten gesorgt - Pferde für das Welzheimer Reiterkastell

BIETIGHEIM-BISSINGEN. Einem Gestüt, das vor 1800 Jahren die römische Kavallerie mit Pferden versorgt hat, sind Landesarchäologen im Gebiet Weilerlen in Bietigheim (Kreis Ludwigsburg) auf der Spur.

Von Dieter Kapff

Für Fachleute ist es nicht ungewöhnlich, daß wichtige und überraschende Ergebnisse archäologischer Ausgrabungen erst Jahre später, bei der Auswertung der Funde und Befunde, zutage treten. So auch jetzt wieder, als der Doktorand der Provinzialrömischen Archäologie, Gereon Balle, sich intensiv mit den Grabungsergebnissen von Bietigheim-Weilerlen beschäftigte. Dort war in den Jahren 1986 bis 1988 von Landesarchäologen unter der Leitung von Ingo Stork eine große, ungewöhnliche römische Gutsanlage untersucht worden, die schon bald als Staatsbetrieb erkannt wurde.
Riesige Getreidespeicher unterscheiden die Anlage von einem gewöhnlichen römischen Gutshof. Das ¸¸römische Heeresproviantamt'', also eine Sammelstelle für den Nachschub an die Truppen am Limes, wies aber noch andere Besonderheiten auf. Im Nordosten, innerhalb der mauerumwehrten Anlage, liegt eine 1,2 Hektar große Fläche, auf der keine Gebäude standen und durch die sich eine Bachsenke zog. Auf der Südseite war ein fünfeckiges Bauwerk an die Mauer angebaut, dessen ungewöhnlicher Grundriß den Archäologen Rätsel aufgab. Die Maße, etwa 35 mal 20 Meter, lassen eine stützenlose Überdachung nicht zu. Balle deutet das Fünfeck als Abrichtplatz für Pferde.
Hier habe man die Tiere an der Longe geführt. In Römerkastellen, wie etwa in Unterkirchberg bei Ulm, sind diese Plätze meist rund, denn dort hatte man es mit bereits abgerichteten Pferden zu tun. Die eckige Form in Bietigheim-Weilerlen war dagegen für den Umgang mit ganz jungen Tieren günstiger, die bei der Dressur gerne ausbrechen. Dort konnten sie in die Ecke getrieben und dann wieder angezäumt werden.
Die Freifläche im Norden war der Auslauf der Tiere, versehen mit einer Tränke. Balle hat auch ein Stallgebäude ausgemacht, in dem 24 Pferde standen. Es gab wohl noch einen weiteren Stall. Außerdem müssen Scheuern für die Lagerung von Gerste, die an die Pferde verfüttert, und Streu, die in die Ställe gestreut wurde, aber auch Heu, das Zusatzfutter war, vorhanden gewesen sein.

Jörg Scheuerbrandt, ein Mitarbeiter des Württembergischen Landesmuseums, hat im Katalog zu der gerade im Genohaus in Stuttgart gezeigten Ausstellung ¸¸Reiter wie Statuen aus Erz'' einmal die Rechnung aufgemacht, wieviel eine 500 Mann starke römische Reitereinheit (Ala) an Fourage für die Soldaten und für die Pferde benötigte. Die Reiter und Pferdeknechte verbrauchten jährlich 308 Tonnen Weizen, die Pferde 372 Tonnen Gerste. Dazu kamen noch 410 Tonnen Heu als Winterfutter. Im Sommer konnte das Grünfutter durch vierstündiges Grasen auf der Weide gewonnen werden.
Der kaiserliche Regiebetrieb in Bietigheim hatte mit seinen großen Speichern und Darren den Nachschub für die Truppe sicherzustellen. Das gilt, jedenfalls zum Teil, auch für die Remonten, also die Ersatzpferde für die Kavallerie. Nach 20 bis 25 Jahren mußten die Tiere aus dem aktiven Dienst ausgesondert werden, wenn sie nicht zuvor im Kriegseinsatz ums Leben kamen. Die Aufgabe des römischen Gestüts in Bietigheim war dabei nicht nur die Pferdezucht, sondern auch die Ausbildung der Pferde für die Kavallerie, die etwa vier Jahre dauerte. Erst dann konnte der Ersatz an die Einheiten abgegeben werden. Scheuerbrandt rechnet mit einem jährlichen Bedarf von 75 Pferden für eine 500 Mann starke Ala. Man wird dies im ¸¸Friedenseinsatz'' bei weitem nicht benötigt haben.
Das Gestüt in Bietigheim hat seine Pferde vermutlich der nächstgelegenen Kavallerieeinheit zugeführt, die von der zweiten Hälfte des 2.Jahrhunderts an in Welzheim im Westkastell in Garnison lag und von dort aus große Strecken des Limes kontrollierte. Es ist die Ala I Scubulorum, die zuvor in Stuttgart-Bad Cannstatt stationiert war. Für ein halbes Jahrhundert war ¸¸Auf der Steig'', einer Anhöhe über dem Neckartal, einer der wichtigsten Militärstützpunkte der Römer in der Provinz Obergermanien. Dort kamen die Römerstraßen von Mainz, Straßburg und Augsburg zusammen. Das Reiterkastell in Cannstatt liegt, welch historischer Zufall, genau unter der Reiterkaserne, die vor dem Ersten Weltkrieg errichtet worden ist.
Da die Reitersoldaten von Cannstatt bereits um die Mitte des 2. Jahrhunderts 35 Kilometer weiter nach Osten, an den Limes nach Welzheim verlegt wurden, kann das Gestüt in Bietigheim den Pferde-Nachschub nicht nach Cannstatt geliefert haben. Für die Cannstatter Reiter muß es zuvor also andere römische Pferdezuchten in der Region gegeben haben. Dabei ist an ¸¸Gutshöfe'' bei Enzberg und bei Roßwag (im Kreis Ludwigsburg) und vor allem an den im nahegelegenen Stuttgarter Talkessel gelegenen zu denken. Dort sind im Bereich der Gleisanlagen des Hauptbahnhofs zwischen der Heilbronner Straße und den Unteren Anlagen im vergangenen und diesem Jahrhundert Reste eines ¸¸römischen Gutshofs'' entdeckt worden. Zuletzt ist bei der Anlage des Zentralen Omnibusbahnhofs die Umfassungsmauer angeschnitten worden.
Im nassen Wiesengelände der Nesenbachniederung war an Ackerbau nicht zu denken. Wohl aber an Viehzucht. Wie 800 Jahre später, als ein Stutengarten zur Keimzelle Stuttgarts wurde. Dort werden deshalb die Landesarchäologen mit ihren Untersuchungen ansetzen müssen, wenn das Gelände beim Bahnhofsumbau (Stuttgart 21) umgepflügt wird.

Über die römische Reiterei am Limes informiert noch bis zum 13. Januar eine Ausstellung im Stuttgarter Geno-Haus. Sie ist montags bis freitags von 9 bis 18 Uhr, samstags nur bis 13 Uhr geöffnet. An Dreikönig von 10 bis 18 Uhr. Der Katalog ¸¸Zwischen Patrouille und Parade'' kostet 15 Mark.

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